Mitte November, traditionsgemäß in der Nacht auf Martini, ziehen im Bayerischen Wald die Wolferer durch Städte und Märkte. Weithin ist dann der ohrenbetäubende Lärm der Schellen zu hören, mit denen eine Gruppe vorwiegend junger Männer (der „Wolf“) ihren Anführer (den Hirten) begleitet. In den Zeiten, als das Jungvieh noch viele Wochen auf Schachten und Waldweiden verbrachte, erbat sich der Dorfhirte alljährlich zum Ende des Weidesommers seinen Hüterlohn von den Bauern. Wo ihm ursprünglich eine kleine Kinderschar von Haus zu Haus folgte, um Äpfel oder Naschwerk zu erheischen, lockt das medial verbreitete Spektakel inzwischen Tausende von Besuchern in den Bayerwald.
Im sogenannten Wolfauslassen spiegele sich noch heute die früher allgegenwärtige Angst vor dem räuberischen Wolf, der die Existenz der Bauern im Bayerwald jahrhundertelang bedrohte, wider – wird vor allem von auswärtigen Medien gerne kolportiert. Ob der Lärm die Wölfe oder gar Dämonen und heidnische Geister abschrecken sollte, darüber gibt es vielfältige Meinungen. Allein die Waldler wissen, dass „der Wolf“ per se eine Fetzengaudi war und ist, mögen andere hinein interpretieren was sie wollen…
Kaum haben die Wolferer ihre rußigen Gesichter abgewaschen und die Schellen fürs nächste Jahr verstaut, rückt der echte Wolf, Canis lupus, das größte Raubtier aus der Familie der Hunde, wieder in den Fokus – und mit ihm die viel zitierte „Angst vorm bösen Wolf“, die bei aller Aufgeklärtheit und Rationalität unserer Zeit nicht aus den Köpfen der Menschen weg zu diskutieren scheint. Seit Wochen halten uns die aus dem Tierfreigelände des Nationalparks bei Ludwigsthal entlaufenen Wölfe auf Trab. Wird ein gerissenes Schaf oder Reh gefunden, geht ein Aufschrei durch Medien und Bevölkerung – auch, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass wildernde Hunde die ‚Täter‘ waren.
Die Wolfsrudel galten lange Zeit als Aushängeschild des Nationalparks Bayerischer Wald und sorgten bei zahlreichen Besuchern für Entzücken und Begeisterung, aber eben nur solange eine mannshohe Umzäunung Tier und Mensch zuverlässig trennte. Einmal in freier Wildbahn gesichtet, werden die großen Beutegreifer zum Reizthema. Kritische Stimmen können sich dabei oft nur auf wenige konkrete Erfahrungen stützen, vielmehr spiegeln sie große emotionale Befangenheit wider. Die Furcht vorm Wolf, in Märchen und Mythen kulturell verfestigt, prägt bis heute wirksam irrationelle Ängste und Bedrohungsszenarien.
Im Sinne eines konfliktarmen Nebeneinanders von Mensch und Natur wär ein rituelles „Wolfauslassen“ wünschenswert, damit sich Mensch und Tier wieder mit Respekt begegnen können.
Christine Lorenz-Lossin