Bayern ist nicht überall alpenländisch, auch wenn dies viele Touristen meinen. Das Voralpenpanorama mit bunt bemalten Häusern und barocken Zwiebeltürmen, die vor der Gebirgskulisse ins Himmelsweißblau ragen, hat sich zwar in den zurückliegenden 200 Jahren als Klischee verfestigt, doch lässt diese Sicht ganze Landstriche und ihre Eigenheiten – kurzum die Vielfalt Bayerns – verschwimmen. Aber was bedeuten schon zwei Jahrhunderte innerhalb einer viel längeren Geschichte? Immerhin sind die ersten Baiern von Niederbayern aus nach allen Seiten vorgedrungen. Wer das Urbayerische sucht, muss sich also mit Niederbayern beschäftigen.

Lebensader dieses Landstrichs ist die Donau. Die Kelheimer Gegend zählt zu den frühest besiedelten Räumen des Erdkreises überhaupt. Hier lebten schon vor 12.000 Jahren die Jäger und Sammler der Altsteinzeit. Bäuerliches Leben regte sich erstmals vor 6000 Jahren entlang der Donau. Um 500 v. Chr. entstanden mit den frühen Keltensiedlungen die Keimzellen der späteren Städte Regensburg, Straubing und Passau. Ab dem ersten nachchristlichen Jahrhundert bildete die Donau 500 Jahre lang die Grenze des römischen Weltreichs gegen Germanien. Die Stammesbildung der Baiern – ein Gemisch aus Germanen, Alamannen, Ostgoten, Langobarden und Römern – erfolgte im 5. Jahrhundert. Ihre Heimat war der Donauraum um Straubing.

Mit der ersten politischen Teilung Bayerns durch die Wittelsbacher Herzöge Ludwig den Strengen und Heinrich XIII. im Jahr 1255 ergab sich die Trennung in die beiden Teilherzogtümer Ober- und Niederbayern. Das Wissen um die höhere (Oberland) bzw. tiefere Lage (Unterland) der einzelnen Landstriche war dabei wortprägend. Regiert wurde das bayerische Unterland von der Hauptstadt Landshut aus.

Unabhängig aller politischen Geschehnisse sind es die markanten Naturräume, die Niederbayern seine unterschiedlichen Gesichter verleihen: Südlich der fruchtbaren Donauebene, dem Gäuboden, der als Kornkammer Bayerns gilt, liegt das tertiäre Hügelland, nördlich erstreckt sich der holzreiche, aber karge Bayerische Wald, der bis an die tschechische Grenze reicht. Die Landwirtschaft des Hügellandes vom niederbayerischen Teil der Hallertau bis ins Rottal prägt das Landschaftsbild. Hopfengärten, Weizen- und Gerstenfelder wechseln mit Kartoffel-, Rüben-, Mais-, Rapsäckern und Grünland. Dazwischen stehen immer wieder lichte Mischwälder.

Die Bewohner des Bayerischen Waldes hatten ihre Erträge von jeher dem rauen Klima und den steinigen Böden abzutrotzen. Ihnen blieben lediglich der „Holzreichtum“ und die Steinbrüche. Granit, Diorit und Syenit lieferten Pflaster- und Bausteine, die sich auf Plätzen und in den Bauten verarbeitet finden. Quarz bildete die Grundlage für die Jahrhunderte lang florierende Glasfabrikation. Der „Gläserne Wald“ ist eine Erfindung der Tourismusbranche, der aber auf die lange Tradition verweist.

All diese natürlichen und klimatischen Gegebenheiten bestimmten über lange Zeiträume hinweg die Kultur und Lebensweise: das Wohnen und Wirtschaften, den Tages- und Jahresablauf, die Einteilung in Arbeits- und Festzeiten, den Speisezettel, das Handeln und Denken. Das hatte auch Auswirkung auf Haus- und Hofformen oder bäuerliche Arbeitsgeräte bis hin zu den technischen Erfindungen, die das Werkeln in der ländlichen Welt erleichterten. Daher unterscheidet sich ein Hallertauer Hopfenbauernanwesen samt Inventar von einem stattlichen Rottaler Vierseithof oder von einem bescheideneren Waldlerhaus.

Freilich haben sich die Zeiten geändert. Wo es das Wirtschaften erforderte, wichen die alten Gebäude den neuen, größeren. Selbst die vielgerühmte Leidenschaft der Rottaler für ihre warmblütigen Rösser war kein Hindernis für den Einzug des Traktors und die Mechanisierung der Landwirtschaft. Das „Volk“ erwies sich stets als pragmatisch. Nur ein geringer Teil der niederbayerischen Bevölkerung bestreitet mittlerweile sein Auskommen aus der Landwirtschaft. Trotz alledem sind die ländlich-bäuerlichen Traditionen nicht ganz vergessen.

Was Niederbayern noch immer auszeichnet und unterscheidbar macht, sind die kulturellen Leistungen, die sich in steinernen Zeugnissen verfestigten. Im Jahr 620 entstand am Donaudurchbruch bei Kelheim das Kloster Weltenburg, das älteste der noch bestehenden bayerischen Klöster. Mit Niederalteich, Metten und Oberalteich folgten weitere mittelalterliche Klostergründungen. Von Metten und Niederalteich aus wurde die Rodung und Besiedelung des Bayerischen Waldes in die Wege geleitet. Das ermöglichte auch den Handel nach Böhmen hinein.

Planmäßig erfolgten viele wittelsbachische Stadt- und Marktgründungen. Bei der Anlage der Märkte verbreiterte man die Straße zum „Straßenmarkt“. Den Städten gab man in Anlehnung an die römischen Kastelle den Grundriss eines Rechtecks. So kann man am Beispiel von Kelheim, Landshut, Straubing, Landau oder Deggendorf die städtebaulichen Strukturen auch nach Jahrhunderten eindeutig ablesen.

Unverkennbar und stadtbildprägend stechen die Blankziegelkirchen wie z. B. St. Martin und St. Jodok in Landshut oder St. Jakob in Straubing aus den Silhouetten heraus. Diese niederbayerische Backsteingotik wirkte auch auf das Umfeld. Weil der Boden den nötigen Lehm hergab, verfügte beinahe jeder größere Bauer über einen Ziegelofen. Das erklärt die profanen Blankziegelbauten, die unverputzten Städel, Wirtschaftsgebäude und Bauernhöfe insbesondere des Rottals, für die der Sakralbau jahrhundertealte Vorbilder lieferte.

Dieses lange Zeit belächelte Niederbayern besitzt also bestimmt nicht wenig Kultur. Ihm fehlen lediglich die spektakulären Tourismusziele. Überhaupt scheint das Spektakuläre, die große Geste, nicht die Sache der Niederbayern zu sein. Ohne den Charakter- und Mentalitätszuschreibungen vergangener Jahrhunderte das Wort zu reden: Vielleicht ist man in Niederbayern ja doch zurückhaltender als anderswo. Solche Zurückhaltung zeigt sich zumindest an der historischen ländlichen Architektur, an den Schlössern des Landadels, den städtischen Bürgerhäusern und den Bauernhöfen. Hier wurde sparsamer mit dem Material umgegangen, Schmuckelemente halten sich in maßvollen Grenzen, die Bewusstheit im Aufwand schafft den gestalterischen Ausdruck und strahlt Ruhe aus.
Ähnliches gilt für die überlieferten Volkslieder, die sogenannten Arien, deren Melodien getragen dahinfließen ohne große Sprünge. Und die ledernen Kniebundhosen lassen ebenso wie die knöchellangen Stiefellederhosen, die man hierzulande einmal trug, keine Stickereien erkennen. Das muss seine Gründe haben.

MS
(Foto: Seefelder)