Für die einen ist es der ergreifendste Augenblick, wenn die fast dunklen Kirche nur noch von Kerzen erleuchtet und gemeinsam „Stille Nacht“ anstimmt wird. Für andere ist „Beethovens Neunte“ an Silvester in der Philharmonie das Höchste. Den nächsten wiederum kommen die Tränen, wenn Händels Feuerwerksmusik aufgeführt wird.
Was eint all diese Menschen? Sie wähnen sich im Gefühl der Zusammengehörigkeit, Teil einer Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen zu sein. Das ist es, was die Menschen seit ewigen Zeiten ein Fest nennen. Die Musik ist dabei einer der wichtigsten Bausteine. Sie hat die Kraft, dass sie für den Moment die Zeit anzuhalten scheint. Wenn wir uns mit ihr identifizieren – wenn wir singen, tanzen, zuhören, scheint es so, als ob wir uns für einen winzigen Augenblick über das Dahinfließen unserer Lebenszeit erheben könnten. Jeder kennt diesen glücklichen, scheinbar ewigen Moment, in dem wir in eine Art Rausch verfallen. Das Fest will diesen Rausch. Die Musik ist eines seiner Mittel. Deswegen ergreift uns „Stille Nacht“, dieses einfache Liedchen, erst vollends, wenn wir es gemeinsam in der Kirche singen, anstatt alleine während eines Waldspazierganges im Hochsommer. Das ist die ureigenste und wichtigste Aufgabe der Musik. Sie macht uns zu Mitgliedern einer Gemeinschaft. Sie verbindet; und zwar seit jeher.
Dieser Aufgabe haben viele Komponisten unserer westlichen Kunstmusik stets nach Kräften entgegenzuwirken versucht. Sie wollten selbstständige, universelle Kunstwerke schaffen, die eine ästhetische Daseinsberechtigung hatten, die um ihrer selbst willen gehörten werden sollen. Sie wollten nicht nur Diener des Festes sein. Aber die dienende Aufgabe ist ureigenste Funktion der Musik. Ob die Komponisten wollen oder nicht. Genau dieser Kern jedoch ist es, der Musik und das Fest in noch viel größerem Maße auch so verlockend wie verführend macht: Als 1918 im Leipziger Gewandhaus die Tradition begründet wurde, am letzten Tag des Jahres „Beethovens Neunte“ aufzuführen, war sie das Symbol der Hoffnung auf eine neue, sozialistisch geformte Gesellschaft. Einige Zeit später machten sich die Nationalsozialisten die Geschichte, die „Beethovens Neunte“ erzählt, zu eigen. Noch etwas später wurden die berühmten 16 Takte aus dem Finale der Symphonie zur Europahymne. So oder so, Musik entfaltet stets Wirkung – sie kann verführen und erheben.
CG