Im Herbst 2023 treffen sich 100 Musikbegeisterte in der Jugendbildungsstätte Windberg. Ein ganzes Wochenende lang wird gemeinsam getanzt und gesungen, in Kleingruppen wird Tanzmusik aus regionaler Überlieferung gespielt. Die Veranstaltung holt Jung und Alt ab, ein Drittel der Teilnehmer sind unter 25 Jahre alt. Veranstaltet wird das Seminar bereits zum 50. Mal. Was steckt dahinter?
Im Jahr 1974 lud der Bayerische Landesverein für Heimatpflege e.V. erstmals zum niederbayerischen Volksmusikseminar, damals noch unter dem Namen „Niederbayerisches Herbsttreffen für Sänger, Musikanten und Tänzer“. Engagierten Volksmusikforschern und -pflegern war es ein Anliegen, auf die vielen regionalen Musiküberlieferungen hinzuweisen und dieses Material an Volksmusikinteressierte weiterzugeben. Kurt Becher, Erich Sepp, Peter Dellefant, Wolfgang A. Mayer, Alois Wegerbauer, Franz Schötz sind einige der Namen, die für die Einführung und Etablierung des jährlich durchgeführten Seminars verantwortlich zeichneten. 1988 stieg der Bezirk Niederbayern als Mitveranstalter mit ein, anfangs mit Max Seefelder, dann mit Andreas Masel, später mit Veronika Keglmaier. Für den Bayerischen Landesverein ist heute Simone Lautenschlager mit der Gesamtleitung betraut.
Die 1970er Jahre waren die Zeit vieler Feldforschungen auf volksmusikalischem Gebiet, wodurch Lieder, Tänze und Musikstücke quasi aus erster Hand überliefert wurden. Gerade der Volksmusikforscher Wolfgang A. Mayer vom Münchner Institut für Volkskunde zeichnete bei Gewährspersonen unzählige Lieder und Tänze auf, die er über viele Jahre hinweg an die Seminarteilnehmer weitergab. Die zahlreichen Aufzeichnungen örtlicher Tanzformen bescherten Niederbayern in Fachkreisen sogar den Titel als reichste Tanzlandschaft Deutschlands. So sind auch heute in Volksmusikkreisen immer noch Tänze wie das Bauernmadl, Fuchsschwanz, Hölldeifi oder Bärnhöj weit verbreitet. Auch eine überraschende Vielfalt an Liedgattungen konnte durch die Aufzeichnungen vermittelt werden: Arien, Balladen, Liebes- und Wirtshauslieder, Gsangl und Gstanzl, weltliches wie geistliches Liedgut.
Die regionalen Musikarchive sind mittlerweile gut gefüllt mir niederbayerischen Melodien. Feldforschung ist nicht mehr das Gebot der Stunde für die Volksmusikinstitutionen. Sie gehen heute eher Fragen nach wie den folgenden: Bei welchen Gelegenheiten wird überhaupt noch gesungen, musiziert und getanzt? Welche Materialien sind also im Wortsinn noch brauch-bar? Gerade bei Liedtexten ist ein kritischer Blick nötig, falls es um sexistische Inhalte geht oder veraltete Männer- und Frauenbilder. Ebenso befasst man sich mit typischer Vortrags- und Spielweise dieser regionalen Musik, gerade in einer Zeit, in der viele Menschen ein Instrument zwar technisch hervorragend beherrschen, aber vielleicht mit einer musikantischen, improvisatorischen Spielart nicht mehr so vertraut sind. Durchaus interessant erscheint auch die Frage, wie die Volksmusik von morgen ausschauen kann: Ihrem Wesen nach ist sie leicht zu erlernen, eingängig und nachvollziehbar – Musik für viele, „Volks“-Musik, keine Kunstmusik. Ganz selbstverständlich passt sie sich auch modernen Hörgewohnheiten an und unterliegt aktuellen Einflüssen.
Zurück zur Ausgangssituation: Nach wie vor wird beim Herbstseminar intensiv aus volksmusikalischer Überlieferung gesungen und musiziert, das Klangbild passt sich dabei unserer Zeit an. Regionalität boomt, das beobachten wir in vielen Bereichen, beispielsweise beim Kleidungsverhalten – Lederhose und Dirndl haben Hochkonjunktur auch bei der Jugend. Wir sehen es beim Einkauf von Nahrungsmitteln, die am besten auf dem regionalen Wochenmarkt gekauft werden, oder auch beim Bauwesen, bei dem gern Holz, Granit, Ziegel aus heimischer Produktion gewählt wird. So empfinden wir auch regionale Musik – bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber musikalischen Einflüssen aus aller Welt – als identitätsstiftend und vertraut. Ein ganzes Wochenende lang mit Gleichgesinnten in die Musiküberlieferung Niederbayerns einzutauchen schafft Begegnungsmöglichkeiten, Selbstbewusstsein durch aktives Mitwirken, und es erweitert das persönliche musikalische Repertoire für diverse Gelegenheiten. Womöglich zeigt es seine ganz eigene Wirkung, wenn beim nächsten Geburtstagständchen ein paar Gratulanten anstatt des etwas abgenudelten „Happy Birthday“ eine niederbayerische Arie mit dem Text „Vui Gsundheit, langs Lebm, soll der Herrgott dir gebm“ im dreistimmigen Satz anstimmen. Schau an, Regionalität lässt sich auch hören!
Veronika Keglmaier