Die stattliche Pinzgauerin, die schwarze Tuxer, die zierliche Hinterwäldlerin oder die schlanke Chianina… Man fühlt sich beinahe an die Schönheitsgalerie König Ludwigs I. erinnert, der die schönsten Frauen seiner Zeit von Hofmaler Joseph Karl Stieler portraitieren ließ. Aber hier ist nicht von weiblicher Anmut des 19. Jahrhunderts die Rede, sondern von Rindern. Genauer gesagt, von alten Rinderrassen, also von Haus- und Nutztieren, die der Mensch in wenigen Jahrtausenden aus ihren Wildformen herausgezüchtet hat.
Seit knapp 7000 Jahren lebt das Rind in der Obhut des Menschen. Nach aktuellen Schätzungen gibt es auf der Welt etwa 1,5 Milliarden Rinder. Sie verteilen sich auf ca. 1200 Rassen, die im Lauf ihrer Geschichte durch selektive Zucht an Standorte und klimatische Bedingungen, vor allem aber den Zielen ihrer Halter angepasst wurden. Spektakulär ist die Erkenntnis, welche die Wissenschaft dank modernster DNA-Technik gewonnen hat: Der gesamte Hausrindbestand geht auf gerade einmal 80 Tiere aus dem Vorderen Orient zurück. Nicht weniger beeindruckend ist, dass auf diesen wenigen Individuen bis heute das Überleben und der Wohlstand ganzer Völker beruhen, wie Annette Hackbarth in ihrem 2014 erschienenen „Kuhbuch“ berichtet.
Mit der Domestizierung des Auerochsen vor beinahe 11000 Jahren nahm eine unschätzbare Kulturleistung der Menschheit ihren Anfang. Die Haltung von Wildtieren, ihre genetische Isolierung und permanente Zuchtauswahl zeitigte ihre Auswirkung auch auf die Kulturgeschichte selbst: Aus den ehemaligen Jägern und Sammlern waren sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter geworden. Ihnen dienten die domestizierten Tiere als Zug- und Arbeitstiere. Aus der Haustierhaltung gewonnene Produkte wusste man nutzbringend einzusetzen: Sehnen als Nähmaterial, Hörner für Gefäße, Dung zur Ertragssteigerung des kultivierten Ackerbodens sowie als Brenn- und Baumaterial. Fleisch als Eiweißlieferant war eine überlebenswichtige Energiequelle. Als Qualitätsprodukt ist es bis heute ein begehrtes Lebensmittel geblieben. Aus Milch werden Käse, Joghurt, Quark und Butter gewonnen. Hochwertige Produkte aus Rindsleder wissen Kenner zu schätzen.
Allerdings muss man seit langem um die Vielfalt der alten, robusten Landrassen bangen. Die Gründe liegen auf der Hand: Das Bevölkerungswachstum erforderte größeren Nahrungsmittelbedarf. Damit begann die Zucht von Hochleistungstieren. Neben den Rindern waren auch andere Haustiergruppen betroffen: Schafe, Ziegen, Schweine, Enten, Gänse, Hühner und Kaninchen. Die Gewinnung von mehr Fleisch, Milch, Eiern, Wolle und Leder war erklärtes Ziel. Wachsende Städte bedurften der Versorgung. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, Massentierhaltung und Hochleistungstierzucht schritten damit einher. Doch mit Letzterer setzte auch der Rückgang der alten robusten, an ihre Standorte angepassten Haustier- und Landrassen ein. Sie stellen nicht nur eine wertvolle Genreserve dar, sondern sind ebenso wie Kunstwerke und Denkmale von Menschen geschaffenes, lebendiges Kulturgut. Dafür engagiert sich die Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen e. V. (GEH) seit 1981.
Maximilian Seefelder