Eine Frau und ein Mann waren viel durch die Welt gezogen und hatten endlich einen Platz gefunden, an dem sie bleiben wollten: ein Ort mit weitem Blick auf den Himmel, die Landschaft, Dörfer und Kirchtürme. Hier wollten sie auch eine Kapelle bauen. Doch zunächst musste die abgebrannte Hofstelle wieder errichtet, das Land bestellt werden. Kinder kamen hinzu. Als der Mann aber merkte, dass er sterben würde, bat er seine Frau, nun die Kapelle zu bauen. Und als man ihn zu Grabe trug, legte sie den Grundstein. Bald stand auf dem Hügel ein kleiner hölzerner Bau. Es sprach sich herum, dass dies ein besonderer Ort ist. Seither kommen die Menschen herbei, finden Ruhe und Weite, und vielleicht auch Hilfe für ihr Leben.
Was klingt wie die Ursprungslegende einer mittelalterlichen Wallfahrt, ist eine Geschichte aus der Gegenwart. Im Jahr 2003, dem Todesjahr des Verhaltensforschers, Autors und Dokumentarfilmers Erik Zimen, begann seine Frau, Mona Zimen, mit dem Bau der Kapelle an ihrer beider Anwesen in Grillenöd bei Haarbach im Landkreis Passau: ein kleiner rechteckiger Raum, nach Osten dreiseitig geschlossen, ein Türmchen mit einer Glocke über dem Portal im Westen, im Inneren ein hölzernes Gewölbe. Wie so eine Kapelle in Niederbayern eben aussieht. Oder doch nicht?
Der Kapellenraum ist offen, wie die Landschaft, die ihn umgibt: Man kann ihn jederzeit betreten. Jeder kann ihn betreten, egal welchem Glauben oder Nicht-Glauben er anhängt. Dafür sorgt auch die Ausmalung, die die Künstlerin Rut Kohn in der ihrer eigenen Technik mit Buntstift auf Holz über acht Jahre hinweg geschaffen hat. Die Motive, die sie für diesen Ort fand, sind grundlegend für unsere Existenz: der Kosmos, das Leben, die Schöpfung, die Frage nach dem Göttlichen. Die Ostwand nimmt wie ein mittelalterlicher Flügelaltar ein Triptychon ein. In geschlossenem Zustand steht es vor einer rotglühenden Feuerwand. Ein zartes gemaltes Tuch verhüllt den Schrein, lässt nur mit einer kleinen, roten Öffnung die Explosion aufscheinen, die sich von der Energie des Feuers gespeist drinnen ereignet: Pflanzen, Fische, Vögel, Getier aller Art und Menschen: das Wunder, das Rätsel des Lebens, Werden und Vergehen – Rut Kohn hat all das in großer Vielfalt ausgebreitet und zugleich in sprechenden Symbolen auf den Punkt gebracht: drei von Fruchtbarkeit kündende, satt-rote Granatäpfel etwa oder eine Uhr mit federleichten Zeigern.
Raum und Zeit, Jahreszeiten, Monate und ein sich über allem wölbender, blauer Himmel voller zeichenhafter Sterne füllen den Raum. Die Bilder überführen die Weite der Umgebung in den kleinen Kapellenraum. Die ganze Unendlichkeit scheint auf einen einzigen Ort konzentriert. Früher hätte man wohl gesagt: ein Gnadenort.
Ludger Drost
Fotos: Georg Thuringer