Am 28. Juni 1914 wurden der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie durch einen nationalistischen Serben erschossen. Das Attentat war der Auslöser für den Ersten Weltkrieg: Die Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn und das deutsche Kaiserreich eröffneten Ende Juli/Anfang August den Krieg gegen Serbien, gegen dessen Schutzmacht Russland und das mit Russland verbündete Frankreich. Durch den deutschen Überfall auf Nordfrankreich, unter Verletzung der Neutralität Belgiens und Luxemburgs, trat Großbritannien mit seinen Kolonien am 4. August in den Krieg ein. Der „Grande Guerre“, der „Große Krieg“, wie er in Frankreich genannt wird und an dem letztlich etwa 40 Staaten beteiligt waren, gilt als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. 17 Millionen Menschen, davon zehn Millionen Soldaten aus ganz Europa und Übersee, fanden den Tod. Unter den etwa zwei Millionen gefallenen deutschen Soldaten ist auch Albert Feldmeier, ein Wirtssohn aus dem niederbayerischen Radmoos.
Ich begegnete ihm zum ersten Mal 2014. Ein archivpädagogisches Projekt zum Ersten Weltkrieg im Stadtarchiv Straubing, das ich leitete, war der Auslöser für eine Suche, die sehr persönlich wurde. Eine Postkarte des in der Straubinger Taubstummenanstalt eingerichteten Lazaretts sollte den Schülern den „Krieg in der Heimat“ mit veranschaulichen. Sie gehörte schon lange zu unserer Sammlung, aber nun las ich Text und Adresse genau durch – und stutzte: „Feldpost. An Herrn Feldmeier Radmoos. Post Mitterfels“. Radmoos, heute ein Ortsteil von Haibach im Landkreis Straubing-Bogen, ist klein – und mir wohl bekannt: Mein Vater Jakob Wagner stammt aus dem dortigen Wirtshaus; ich habe schöne Kindheitserinnerungen an die Besuche bei „Waldoma“ und „Waldopa“, an die begehrten Kracherlflaschen, die Riesenblechbüchse voller Bratheringe und das herrliche Spielen in der alten hölzernen Kegelbahn. Und war nicht Oma eine geborene Feldmeier? „Straubing, den 20. Dez. 16 Liebe Eltern! Habe Max nicht getroffen, Karte zu spät eingetroffen. Bitte wenn jemand diese Tage rauskommt eine Quittung mitzunehmen. Franz kann die Schuhe bringen oder er …“ Ab hier ist die Karte leider nicht mehr lesbar, am Rand ist noch hingekritzelt: „fdl. Gruß Ltnt. Inf. Feldmeier Res.Lazarett Straubing“. Beim nächsten Besuch meiner Eltern hatte ich eine Kopie der Karte dabei. Und tatsächlich: Der Absender Albert Feldmeier war der Onkel meines Vaters! Als Kind hörte mein Vater immer wieder, dass der Albert „sehr gscheit“ gewesen sei, in Straubing sogar „studiert“ habe. Wirklich lässt sich zum Beispiel im Jahresbericht der „Königlichen Realschule“ Straubing für das Schuljahr 1902/1903 in der III. Klasse Albert finden – als drittbester Schüler. Und aus der Alten Meldekartei des Stadtarchivs erfahre ich, dass ein Albert Feldmeier, geboren am 22. Februar 1887 in Radmoos als Sohn der Wirtsleute Rupert und Theres, seit November 1906 in der Mühlsteingasse 546 ½ gewohnt hat und zwar als „Rentamtsincipient“, also als Lehrling im Finanzamt. Am 15. August 1910 meldete sich Albert nach München ab, um hier eine Stelle an der Handelsbank anzutreten.
Soldat und Fotograf an der Westfront
Auf den Tag genau vier Jahre später, am Tag Mariä Himmelfahrt 1914, zog er in den Krieg. Er gehörte dem Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 2 München an, das Teil der 6. Deutschen Armee war. Über seine Einsatzorte als Soldat geben die Kriegsstammrollen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv Abteilung Kriegsarchiv detailliert Auskunft. Er war an den Brennpunkten der Westfront: in den Stellungskämpfen im nordfranzösischen Artois, in der Schlacht bei Arras, in den Kämpfen am Fluss Aisne – wo er verwundet wurde – und in der Schlacht an der Somme, der mit über einer Million getöteter, verwundeter und vermisster Soldaten verlustreichsten Schlacht des Ersten Weltkriegs. Albert „bewährte“ sich als Soldat, erhielt mehrere Auszeichnungen wie das Eiserne Kreuz 2. und 1. Klasse, und wurde für besonders „rasches und selbstständiges Eingreifen“ belobigt. Er machte militärische Karriere: Er wurde nach Berlin zu einem Lehrgang der „Heeresgasschule“ gesandt, zum „Richtschützen“ ausgebildet und am 14. November 1916 zum „Leutnant der Reserve“ befördert. An der Front übernahm er zunehmend Führungsaufgaben, stieg vom Zugführer zum (stellvertretenden) Kompaniechef auf. Neben Alberts Namen in der Kriegsstammrolle ist mit Rotstift ein großes Gefallenen-Kreuz gezeichnet. Albert starb am 9. April 1918, am ersten Tag des großen Angriffs der 4. Flandernschlacht, als die deutsche Armee sich aufmachte, das belgische Ypern zu erobern. Er fiel im Kampf um die Stadt Armentières – durch einen Granatentreffer in die Brust. Laut meinem Vater wurde in der Verwandtschaft erzählt: „Übrig geblieben ist nur der Arm mit der Armbanduhr.“ Das Kriegerdenkmal in Haselbach erinnert an ihn. In Frankreich an seinem Grab war noch keiner aus der Heimat. Albert hatte offenbar eine für die damalige Zeit noch eher ungewöhnliche Leidenschaft, die Fotografie. In Familienbesitz ist ein Album aufgetaucht, das Albert während des Krieges angelegt hat. Es sind Aufnahmen aus dem Alltagsleben eines Soldaten an und hinter der Front. Es sind ungeschönte Bilder einer oft grausamen Wirklichkeit: zerstörte Häuser, Kirchen und Dörfer, gefallene französische Soldaten auf der Straße, verwüstete Landschaften mit Baumskeletten, provisorische Soldatengräber, von Wildschweinen ausgeweidete Pferdekörper, Granatenfeuer, Angriffe durch Flammenwerfer. Er fotografierte Soldaten auf Wache in den Schützengräben, bei Feldgottesdiensten und Erholungspausen, in ihren Quartieren, vor Bunkern und Baracken, bei Truppentransporten.
Spurensuche in Frankreich und Belgien
Im Frühjahr 2024 machte ich mich mit einer Kopie des Albums und zwei Freunden auf den Weg zu den Stätten des Ersten Weltkriegs und auf die Spuren meines Großonkels. Wir folgten der Westfront von Verdun im französischen Lothringen bis nach Ypern im belgischen Flandern. Die Gnadenlosigkeit dieses Ersten Weltkrieges markieren unzählige große wie kleine, pompöse wie bescheidene Gedenkstätten und Soldatenfriedhöfe, über das Land verteilt, zumeist auf früheren Schlachtfeldern errichtet.
Man verstummt: zum Beispiel im „Beinhaus von Douaumont“ mit Gebeinen von über 130.000 nicht identifizierten französischen und deutschen Soldaten, am „Thiepval Memorial“, das an die über 72.000 vermissten Soldaten aus Großbritannien und Südafrika aus den Schlachten an der Somme erinnert, im deutschen Soldatenfriedhof in Neville-Saint-Vaast mit fast 45.000 Gefallenen, am „Notre-Dame de Lorette“ bei Ablain-Saint-Nazaire, dem größten französischen Friedhof mit 45.000 Toten, angelegt auf der umkämpften „Loretto-Höhe“. Hier steht auch der „Anneau de Mémoire“, der Ring der Erinnerung, der 2014 als internationales Mahnmal eingeweiht wurde; der begehbare dunkle Betonring hält in alphabetischer Ordnung auf 500 Tafeln 580.000 Namen von Soldaten fest, die in der Region gestorben sind, und zwar unabhängig von ihrer Nationalität. Dreimal ist der Name Feldmeier Albert hier eingraviert, einer davon ist Albert aus Radmoos.
Begegnungen tun gut: In „Beaumont-Hamel“, dem Gedenkort für die Gefallenen aus Neufundland, einem riesigen ehemaligen Schlachtfeld mit nach wie vor erkennbaren Schützengräben und Granattrichtern, begrüßen junge kanadische Volunteers herzlich. In „The Ulster Tower“ – an der Frontlinie errichtet, an dem die irische Armee am 1. Juli 1916 über 5000 Soldaten verlor – bewirtet ein irisches Ehepaar uns frierende und von dem Gesehenen erschöpfte Deutsche mit heißem schwarzem Tee. Ein französischer Tierarzt hilft in Geluveld auf den mitgebrachten Fotos von Albert Kirchen zu identifizieren. Auch das Frühlingsgrün der Wälder und leuchtende Gelb der vielen Rapsfelder wirken tröstend – bis mittendrin der nächste Soldatenfriedhof, Reste von Bunkern und zerstörten Dörfern oder von der Natur eroberte, aber noch erkennbare Explosionskrater erscheinen. Die Wunden, die diese Region 1914 bis 1918 erlitt, sind augenfällig – und die Freundlichkeit ihrer Bewohner bewundernswert. Bereits die Fotos von Albert Feldmeier zeigen Zerstörungen von Häusern und Landschaften, zeigen aber auch noch intakte Kirchen oder Ortsmitten, die dann doch Opfer des Krieges wurden. Douai, Péronne, Rancourt, Laon, La Bassée, Saint-Laurent-Blangy, Lorgies, Illies, Herlies, Wicres, Marquillies, Geluveld, Menen, Zandvoorde, Tenbrielen waren einige der Stationen Alberts – und unsere.
Hervorragende Museen wie das „Verdun Memorial“ auf den Schlachtfeldern von Verdun oder das „In Flanders Fields Museum“ in Ypern dokumentieren nicht nur den Verlauf des Krieges, sondern auch den Alltag, das Elend, das Schicksal der Soldaten, ungeachtet ihrer Herkunft, ob alliierter Verteidiger oder deutscher Angreifer. Die Erinnerungsstätte „Caverne du Dragon“, die „Drachenhöhle“, am Chemin des Dames, entführt unter die Erde: An einem alten Steinbruch hatte die deutsche Armee hier eine strategisch wichtige, unterirdische Verteidigungs- und Aufenthaltsbastion geschaffen; in diesem beklemmenden Bunkersystem, von französischen Truppen immer wieder angegriffen und teilerobert, haben sich unvorstellbare Szenen abgespielt. Die Straße waren wir nur wegen eines Umweges entlanggefahren – und es stellte sich heraus, nach Vergleichen mit Albumfotos, beschriftet mit „Ailettebachtal“ und „Felsenwohnung“, dass hier auch Albert gewesen sein muss.
Blauer Luftballon
Albert wurde zunächst dort bestattet, wo er gefallen war. In den Kriegsstammrollen ist lapidar vermerkt: „Beerdigungsort unbekannt. ca. 400 m südlich an der Straße Richebourg – St. Vaast …“ Wir fanden diese Straße, die die heute zu einer Gemeinde zusammengelegten Ortsteile Richebourg und Saint Vaast verbindet. Ein Wassergraben zieht sich entlang des Sträßchens. Als ich dort stand, floss ein leuchtend blauer Luftballon auf mich zu. Ein berührender Zufall. In den 1920er Jahren wurden die vielen kleinen Bestattungsorte und Einzelgräber von Soldaten auf zentrale Kriegsgräberstätten umgebettet. Auch Albert Feldmeier kam damals in den Soldatenfriedhof Lens-Sallaumines. Der bereits im Herbst 1914 angelegte Friedhof wird vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unterhalten und ist letzte Heimstatt für 15.646 deutsche Soldaten, wobei 7.439 Gefallene in Gemeinschaftsgräbern liegen. Die Erzählung meines Papas, von Albert sei nach dem Granattreffer „nicht mehr viel übrig“ gewesen, bestätigte sich insofern, als er kein Einzelkreuz hat, sondern sein Name auf dem sogenannten „Mannschaftsgrab“ vermerkt ist. Zugang erhielten wir zum Soldatenfriedhof, der Teil des städtischen Friedhofs ist, übrigens wieder nur durch einen Zufall: Der Friedhofswärter hatte sich beim Einkaufen verspätet, daher war das Tor noch nicht versperrt – es war der letzte Abend unseres Aufenthalts in Nordfrankreich und damit die letzte Gelegenheit das Grab zu suchen.
Rote Mohnblüten sind zu Symbolen für das Gedenken an die britischen Soldaten geworden, da sie als erste auf den Gräberfeldern aufgingen, und blaue Kornblumen erinnern an die französischen Soldaten. Sie sind auf dieser Reise stets präsent, in Papierform, in Glasfenstern, auf Wegweisern. Mein Gänseblümchen, das ich von der Wiese des Soldatenfriedhofs pflückte und auf den Stein bei Alberts Namen legte, ist schon lange verwelkt. Die Begegnung mit einem Verwandten, einem klugen niederbayerischen Wirtshausbuben, dem das Leben noch offen gestanden hätte und sich wie bei so vielen seiner Zeitgenossen radikal geändert und jäh geendet hat, wirkt nach. Ein Leben, in dem er als Soldat in seiner Position und mit seiner Ausbildung sicher Leid, Schmerzen, Tod „am Feind“ zu verantworten hatte, in dem er fähig sein musste zu töten – allein die Schilderung der deutschen Gasangriffe im Yperner Museum war fast unerträglich. Der Krieg und der Tod so vieler Menschen waren sinnlos und dürfen es dann doch wieder nicht gewesen sein. Die Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten an den Kriegsschauplätzen, die „Kriegerdenkmäler“ in der Heimat, die Toten sind stete Mahner für ein friedliches Miteinander – auch Albert Feldmeier, mein Großonkel.
Dorit-Maria Krenn