Die kleine Anna war ein Wunderkind. Wunderkinder werden leider auch älter und das Wunder damit immer weniger. Deswegen machen sie ihre Eltern meistens einige Jahre jünger. So war das auch bei der kleinen Anna. Weil wir wissen, dass sie 1816 mit 10 Jahren nach Wien zu Carl Czerny (alle, die einmal wenigstens ein bisschen Klavier gelernt haben, kennen ihn ganz bestimmt wegen seiner vielen verschiedenen Etüden) kam, um bei ihm ihre Klavierstudien bis 1820 fortzusetzen, wissen wir auch, dass das Geburtsdatum 1808, das heute im Umlauf ist, höchstwahrscheinlich falsch ist. Czerny schreibt nämlich in seinen Memoiren:
„Im Jahr 1816 nahmen meine Eltern die kleine, damals zehnjährige Ninette Belleville in Kost und Wohnung und ich zur musikalischen Ausbildung. Es war eines der seltensten musikalischen Talente, und da sie sich nach dem Willen ihres Vaters der Musik widmen sollte, so hatte ich nun eine Schülerin, welche auch durch zahlreiches öffentliches Produzieren meinen schon ohnehin bedeutenden Lehrerruf vermehrte.“ (Carl Czerny: Erinnerungen aus meinem Leben, Wien [1860], Reprint Baden-Baden,1968.)
Annas Vater Carl de Belleville (ca. 1779–1851) stammt aus Rouen in Frankreich, kam 1800 mit dem napoleonischen Heere nach Bayern und war von 1801-1806 Sprachlehrer an der Universität in Landshut. Danach war er als Sekretär, Übersetzer und Lehrer in Augsburg tätig. Also kann Anna gar nicht 1808 geboren sein, denn 1808 war die Familie längst in Augsburg und der Geburtsort ist ja Landshut, denn im Kirchenbuch der Pfarrei St. Martin steht, dass sie am 24. Januar 1806 geboren ist. Ihre Mutter Amalia geborene Eck (1779–1846) war eine Tochter des Mannheimer Hofmusikers und Hornisten Georg Eck.
Schon während ihrer Zeit in Wien, und auch davor, z. B. 1816 in München und Augsburg, konzertiert Anna und die Berichterstatter loben ihr „ausgezeichnetes Talent“ (Allgemeine musikalische Zeitung“ vom März 1819). Ebenfalls 1819 hat sie, wenn wir William Gardiner, ein englischer Komponist und Bewunderer Beethovens, der zur selben Zeit in Wien weilt, Glauben schenken wollen, Beethoven dessen Klaviersonate As-Dur op. 26 vorgespielt:
„Mademoiselle de Belleville was the favourite of Beethoven. In her eleventh year she was a welcome visitor to the deaf musician, who sat by the hour, with his long trum- pet in his ear, listening to her inimitable touch of his divine adagios.by the hour, with his long trumpet to his ears, listening to her inimitable touch of his divine adagios.” (William Gardiner: Music and Friends, London [1853]).
Bevor sie mit dem Vater eine große Konzertreise unternimmt (ein Wunderkind muss natürlich auch Geld abwerfen), gibt sie im November 1820 ein Abschiedskonzert. Sie spielt das Klavierkonzert cis-Moll op. 55 von Ferdinand Ries, Schüler und Bewunderer Beethovens, und eigene Variationen:
„Am 1sten im k. k. Redoutensaale: Abschiedskonzert der geschickten Klavierspielerin, Fräulein Belleville, welche das Cis moll Concert von Ries, und selbst gesetzte Variationen mit außergewöhnlichem Beyfall vortrug, der auch ihrem seltenen Talente mit vollem Rechte gebührte.“ (Allgemeine Musikalische Zeitung, Wien 1821, Sp. 9).
Die erste Station der großen Tournee durch Europa ist im Dezember Prag. Auch hier ist der Berichterstatter begeistert:
„[W]ir waren recht sehr erfreut, in einem so jugendlichen Alter von einem Frauenzimmer einen so präcisen, kraftvollen und gerundeten Vortrag zu hören. Wenn wir sagen, dass sie das Concert in Es dur von Ries nach allen Kunstforderungen mit dem einstimmigsten Beyfall ausgeführt hat, so lassen wir ihr nur strenge Gerechtigkeit widerfahren. In Variationen von ihrer eigenen Erfindung, welche in bescheidenem modernen Geschmack verfasst sind, und besonders auf ihre Individualität berechnet zu seyn scheinen, zeigte sie hoffnungsvolle Anlagen zur Composition, welche unter einer guten Leitung ganz sicher zur Entwicklung und Ausbildung gedeihen werden, und so dürfte wohl die Meinung aufs neue bekräftigt werden, dass das weibliche Geschlecht eben sowohl zur schaffenden als zur ausübenden Tonkunst geeignet sey.“ (Allgemeine Musikalische Zeitung, Wien 1821, Sp. 73 f.).
Dass Pianistinnen und Pianisten komponieren, ist heute eine Ausnahme. Damals war es ganz normal, dass sie in ihren Programmen auch eigene Werke spielten und auch improvisierten: Beethoven z. B. hat Wien als genialer Improvisator erobert und selbst Franz Liszt hat in seinen Konzerten noch wie damals Beethoven auf Zuruf aus dem Publikum improvisiert.
Die große Tournee durch Europa führt Vater und Tochter bis nach Paris. Aber der Vater scheint mit den Einnahmen, die die Konzerte einbringen nicht besonders gut umgegangen zu sein. Die Schulden wachsen ihm über den Kopf und er hat kein Geld für die Rückreise nach München. Mit Konzerten in Tours und Orléans können sie gerade einmal die Schulden zurückzahlen. Die Auftritte in Lille und Gent bringen nichts ein, gerade einmal die Unkosten. Konzerte in Brüssel müssen wieder abgesagt werden, weil Anna krank ist. Zu einem Konzert in Antwerpen können sie nur reisen, weil sie all ihre Wertsachen als Garantie in Brüssel zurücklassen. Dort bricht Anna, die die Krankheit noch nicht völlig überwunden hat, aber während eines Konzerts zusammen. Erst nach einem Monat kann sie Konzerte geben, die die Rückreise möglich machen. 1829 kehrt Anna nach Wien zurück. Sie gibt zwei Konzerte, lässt ein begeistertes Publikum zurück. Egal wo sie nun in den kommenden Jahren spielt, Wien, Warschau, Leipzig, Paris, überall sind die Kritiker begeistert. Robert Schumann schreibt z. B. 1834 über ein Konzert in Leipzig:
„Ihr Clavierspiel ist, was es sein soll, ein Spielen mit dem Instrument. Die Masse versteht dies Geheimnis nicht. Je krasser die Noten, je heitrer das Gesicht: je toller die Sprünge, je sicherer der Anschlag. Im Ausgearbeiteten, Abgeründeten, vom einfachen Ton an bis zu gegen einander rollenden, blitzesschnellen Doppelgriffen, steht sie anderen Meistern gleich. An Sicherheit der Volubilität übertrifft sie vielleicht alle.“ (Neue Leipziger Zeitschrift für Musik“ vom 10. April 1834, S. 11).
Schumann spielt Anna aber gegen das damals gefeierte Wunderkind Clara Wieck (ab 1840 Clara Schumann) aus. Im Kern geht es um das Klischee französische Brillanz (Anna) vs. deutsche Tiefgründigkeit (Clara):
„Der Ton der Belleville schmeichelt dem Ohre, ohne mehr in Anspruch zu nehmen, der der Klara senkt sich ins Herz und spricht zum Gemüt. Jene ist dichtend, diese das Gedicht.“ (Robert Schumann: Gesammelte Schriften Bd. 2, Leipzig, 51914, S. 350).
1831 konzertiert Anna in England. In London lernt sie den englischen Geiger Antonio James Oury (1800-1883) kennen. Die beiden heiraten. Von nun an konzertiert Anna unter dem Namen Anna Caroline de Belleville-Oury. In den kommenden Jahrzehnten unternimmt sie mit ihrem Mann ausgedehnte Konzertreisen, z. B. auch nach Russland. In den Jahren 1836 und 1837 leben die beiden hauptsächlich in Paris. Dort lernen sie Chopin kennen. Der ist entzückt und komponiert für Anna den Walzer op. 70 Nr. 2 und schreibt ihr einen Brief:
„Was die kleine Valse angeht, die für Sie zu schreiben ich das Vergnügen hatte, behalten Sie sie, ich flehe Sie an, für sich. Ich möchte nicht, dass sie an die Öffentlichkeit gelangt. Aber was ich gerne wollte, das ist zuzuhören, wenn Sie sie spielen, Madame, und einer Ihrer eleganten Versammlungen beizuwohnen, in denen Sie unserer aller Meister so wunderbar interpretieren, die großen Komponisten wie Mozart, Beethoven und Hummel. Das Adagio von Hummel, das ich Sie vor einigen Jahren in Paris bei M. Erard spielen hörte, klingt mir immer noch in den Ohren und ich versichere Ihnen, dass es nur wenige Pianisten gibt, trotz der hiesigen großen Konzerte, die mich die Freude vergessen lassen könnten, dass ich Sie an jenem Abend hörte.“ (Brief vom 10. Dezember 1842)
1839 lässt sie sich in London nieder, konzertiert hauptsächlich in England, komponiert und unterrichtet als Professorin an der Royal Academy of Music. 1846 und 1847 unternimmt sie eine große Konzertreise nach Italien, wo sie sogar vom Papst empfangen und zum Ehrenmitglied der Accademia di Santa Caecilia ernannt wird. In den kommenden Jahren spielt sie fast nur in England und ab und zu in Paris. 1865 gibt sie ihr letztes Konzert in London, ausschließlich mit eigenen Werken.
Anna Caroline de Belleville-Oury hat über 200 Stücke komponiert. Die meisten ihrer Werke hat sie nach 1840 komponiert, die dann auch hauptsächlich in England erschienen sind, denn vorher war sie fast andauernd auf Reisen und hatte deswegen sehr wenig Zeit. Sie hat für den eigenen Konzertgebrauch komponiert und für den Salon bzw. das häusliche Klavierspiel. Das sind hauptsächlich für ihre Zeit typische Stücke: Fantasien und Variationen über bekannte Opernohrwürmer, Impromptus, Nocturnes, Mazurkas, Walzer, Sérénades, Souvenirs, Rêveries. So wie heute Stars unter ihrem Namen Merchandise verkaufen, hat Anna Caroline de Belleville-Oury Kompositionen verkauft. 1877 schreibt ein Rezensent über ihre Komposition „Consolation. Rêverie mélodieuse“ in der Zeitung The Musical Times:
„Obgleich sich Madame Oury nicht an Ausführende mit eher durchschnittlichen Fähigkeiten wendet, dabei schreibt sie stets anmutig, wird sich ihre ,Consolation‘ bald als eines ihrer beliebtesten Stücke erweisen. Die Themen sind anmutig und die Passage mit denen sie sie verziert sind gewählt und geschmackvoll.“ (The Musical Times, 01.09. 1877, S. 439).
Obwohl viele ihrer Kompositionen gedruckt wurden, müssen die allermeisten als verschollen gelten. Oft lassen sich nicht einmal ihre Titel herausfinden. Anna Caroline de Belleville-Oury geht es wie vielen Interpreten ihrer Zeit, die hauptsächlich Genrestücke komponiert haben. Sie und ihre Werke sind verschwunden im unendlich tiefen Abgrund der Geschichte. Sie lebt in Chopins Widmung als eine der größten Pianistinnen des 19. Jahrhunderts weiter. 1880 ist Anna Caroline de Belleville-Oury in München gestorben, wohin sie erst kurz vor ihrem Tod zurückgekehrt ist. Ihr Grab befindet im alten Südfriedhof in München.
Musik zum Artikel:
Ferdinand Ries: Klavierkonzert op. 55: https://www.youtube.com/watch?v=WlBZR9S2IrY
Ludwig van Beethoven: Klaviersonate op. 26: https://www.youtube.com/watch?v=PaBl6lhaFWY
Frédéric Chopin: Walzer op. 70/2: https://www.youtube.com/watch?v=8xGESptitIM
Noten von Kompositionen von Anna Caroline de Belleville-Oury: https://imslp.org/wiki/Category:Oury,_Anna_Caroline
Christoph Goldstein
Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Caroline_de_Belleville#/media/Datei:A_Kneisel_-_Anna_Caroline_Oury_(Lithographie).jpg