Kunst und Kultur werden häufig in einem Atemzug genannt, ja, die beiden Begriffe manchmal sogar deckungsgleich verwendet. Mal ehrlich: Wie oft ist von Kultur die Rede und Kunst gemeint?
Davon zeugen die vielerorts institutionell ausgelobten Kulturpreise, die eigentlich Kunstpreise darstellen, weil in der Regel Künstler damit bedacht werden. Hier wiederum fokussieren sich die Jurys nicht selten auf Bildende Künstler, traditionsgemäß auf Bildhauer und Maler. Sie gelten zuvorderst als Künstler, während Schauspieler, Schriftsteller oder Musiker, die spartenspezifisch nach ihrer Profession benannt werden, nicht selten leer ausgehen.
Gewiss, neben den Berufsverbänden Bildender Künstler/innen (BBK) gibt es auch den weitaus älteren Deutschen Tonkünstlerverband (DTKV), der zu Recht die Kunst im Namen führt. Der Bundesverband Schauspiel/Bühne/Film/Fernsehen/Sprache (BFFS) und der Verband Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) verzichten darauf. Dennoch handelt es sich bei ihren Mitgliedern um Künstler/innen.
Sämtliche Kunstsparten bereichern unsere Kultur. Sie sind unverzichtbarer Bestandteil des Kulturlebens. Aber die Künste bilden eben nicht Kultur in ihrer Gesamtheit ab. Trotzdem ist der herrschende Kulturbegriff nach wie vor ein von den Künsten dominierter. Oder macht sich etwa ein kunstaffines Ausstellungs-, Theater-, Opern- und Sinfoniekonzert-Publikum, das während der Pausen bei einem Glas guten Weins über Dargebotenes fachsimpelt, Gedanken darüber, dass beispielsweise auch der Inhalt des Glases eine über Jahrtausende hochentwickelte Kulturleistung darstellt?
Die modernen Kulturwissenschaften haben einen „engen Kulturbegriff“ längst überwunden – einen der Kultur auf Hochkultur, Kunst und ästhetische Werte begrenzt. Kultur im umfassenden Sinne ist das vom Menschen Geschaffene und Gestaltete im Gegensatz zu dem, was von Natur aus vorhanden ist. Schließlich leitet sich das Wort „Kultur“ vom lateinischen colere (pflegen, urbar machen) und von cultura (Landbau, Veredelung von Ackerboden) ab. Die Rodung, die Kultivierung von Land zählt so gesehen zu den ursprünglichsten aller menschlichen Kulturleistungen. Andernfalls könnte von Kulturlandschaften gar keine Rede sein. Zu diesen zählen selbstverständlich die Kulturpflanzen sowie die Nutz- und Haustierrassen, die der Mensch im Lauf seiner Kulturgeschichte gezüchtet, die Produkte, die er daraus gewonnen und für sich verwertet hat.
Kultur äußert sich vielfältig. Denken wir an unsere (regionale) Ess- und Trinkkultur, Kleidungskultur, Bau- und Wohnkultur (Architektur), Sprachkultur, an Glaube und Brauch als Kult, der sich vom Alltagsleben abhebt wie die Künste. All dies ist uns mehr als nur vertraut. Die Summe dessen macht unsere Kultur- und Lebensweise aus; sie prägt unsere Identität.
Von dem niederländisch-französischen Kommunikationswissenschaftler Fons Trompenaars stammt die kluge Erkenntnis: „Kultur umgibt uns wie das Wasser den Fisch.“ Wunderbar. Denn im Gegensatz zum Fisch können wir uns dessen bewusst werden und den modernen „weiten Kulturbegriff“ überzeugend in Worte fassen: Kunst ist Kultur. Aber Kultur umfasst mehr als Kunst.
Maximilian Seefelder