Der November wird im Volksmund als „Totenmonat“ bezeichnet. Seine Tage von Allerseelen bis zum Ewigkeits- oder Totensonntag sind dem Gedenken an die Verstorbenen gewidmet. Doch nicht erst bei den Christen führte der Glaube an die Lösbarkeit der Seele vom Körper zur Vorstellung von Unsterblichkeit. Gedächtnisfeiern und Feste zur Verehrung der Seelen der Verstorbenen sind in vielen Kulturen üblich.
In christlichen Klöstern wurde Allerseelen ab dem 10. Jahrhundert gefeiert. Innerhalb der vielfältigen, religiös geprägten Vorstellungen von einem Weiterleben im Jenseits entwickelte der Volksglaube seine eigenen Deutungen und Bräuche. Demnach würden die Seelen der Verstorbenen am Armeseelen-Tag für kurze Zeit zurückkehren, um sich von ihren Qualen im Fegfeuer zu erholen. Bevorzugt sollen sie sich in Kirchen, auf Friedhöfen, im Dunkel, ja sogar im Wind aufhalten. Mancher Brauch war von diesem Glauben getragen. So sollte man Arme Seelen keinesfalls kränken. Vielmehr war man darauf bedacht, sie freundlich, ja fürsorglich zu behandeln. Wer dieses Gebot missachtete, dem wurde übel mitgespielt, wie aus vielen überlieferten Sagen herauszulesen ist. Kein Messer durfte mit der Scheide nach oben, keine Pfanne leer über dem Feuer stehen, auf dass sich keine Seele je verletzte. Ihre Qualen im Fegefeuer wollte man mit kühler Milch gelindert wissen. Am geheizten Ofen durften sich jene Seelen wärmen, welche die „kalte Pein“ erleiden mussten. Mancherorts speiste man sie mit Brei, der im „hölzernen Seelennapf“ gereicht wurde.
Viele dieser rituellen Praktiken sind aus dem Gebrauch gekommen, insbesondere nachdem die Aufklärung allem sogenannten Aberglauben den Kampf angesagt hatte.
Noch mehr ließen die rasanten soziokulturellen Entwicklungen der Nachkriegsjahrzehnte viele volksreligiöse Traditionen hinter sich. Mittlerweile weiß die Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal mehr, was Allerseelen überhaupt bedeutet. Dennoch findet in dieser Gemengelage zwischen Gleichgültigkeit, verschüttetem Wissen und kritischer Glaubenshaltung manche Jenseitsvorstellung bis heute ihren sichtbaren Ausdruck in Bräuchen und Symbolen.
In einigen Regionen des bayerisch-alpenländischen Raums kennt man noch immer den sogenannten Seelenwecken, Seelenzelten, Seelenspitz oder -zopf. Seine unterschiedlichen Bezeichnungen und Ausführungen, ob als Kuchen- oder Hefeteig, Wecken oder Zopf, mehr oder weniger süß, zeugen von der Verbreitung dieses Brauchgebäcks.
Ehemals schenkten Tauf- und Firmpaten ihren Patenkindern, Eltern ihren Kindern, Verehrer ihren Liebsten zu Allerseelen einen Seelenwecken. Die Beschenkten standen stellvertretend für die Armen Seelen. Deshalb wurden bevorzugt auch die Armen des Dorfs beschenkt. Jedes „Vergelt’s Gott“ der Bedachten führte dem Volksglauben nach zur Erlösung einer Armen Seele aus dem Fegfeuer. Auch auf den Gräbern legte man Seelenwecken nieder, die von den Ärmsten und Kindern nach dem Gräbergang eingesammelt werden durften. Im Bayerischen Wald war es bis ins 19. Jahrhundert hinein Brauch, dass die Dorfarmen und Kinder um Allerseelen von Haus zu Haus zogen, um bei den wohlhabenden Bauern Seelenwecken zu erheischen. Diese erhofften sich für ihre Mildtätigkeit reichen Ernteertrag im darauffolgenden Jahr. Ob die Gabe selbstgebacken oder gekauft war, spielte dabei keine Rolle. Lediglich auf den Akt des Verschenkens kam es an.
Ich war am Montag vor Allerheiligen und Allerseelen in Geisenhausen und fand in der Auslage der Bäckerei Rauchensteiner süße Seelenwecken vor. Auf meine Nachfrage hin erklärte mir die Juniorchefin, die Bäcker- und Konditormeisterin Julia Holzner, dass sie diese Tradition in der dritten Generation fortführe. Schon Großvater Maximilian Rauchensteiner fertigte süße Seelenwecken, nachdem er 1954 die Bäckerei übernommen hatte, die seit 1739 besteht. Das Biskuitgebäck bietet die Meisterin in zweierlei Ausführungen und dreierlei Größen an: mit Buttercremefüllung und Schokoüberzug, mit Aprikosenkonfitüre und Fondantüberzug, jeweils als 400-, 600-, oder 900-Gramm-Kuchen. Ca. 300 Seelenwecken werden um Allerseelen herum gebacken, und es scheint sich in den letzten Jahren ein leichter Aufwärtstrend für die Gebäckstücke abzuzeichnen. Sie werden gerne als Patengeschenke und aus Traditionsgründen gekauft, und wohl auch weil sie etwas Besonderes sind. Es gibt sie nur einmal im Jahr, um Allerseelen eben. Warum das Gebäck ellipsenförmig gestaltet ist, beantwortet die Juniorchefin mit einem charmanten Lächeln: „Weil eine ellipsenförmige Seele leichter ins Himmelreich eingeht.“
Maximilian Seefelder