Die monumentale Stieleiche von Marterberg bei Vilshofen – ein wahrer Gigant am Waldrand: Mit einer Höhe von 26 Meter und einem gewaltigen Kronenumfang von fast 100 Metern erblickt man die riesige Eiche schon von Weitem. Kommt man näher, zieht der massiv wirkende und rund sieben Meter Umfang messende Stamm die Blicke auf sich. Seine leichte Drehwüchsigkeit lässt ihn noch uriger erscheinen. Kurz: ein Monument von einer Eiche, das die durchaus gut gewachsenen Waldbäume in seiner Nachbarschaft zu Statisten degradiert. Unwillkürlich drängt sich mir die Frage nach dem Alter auf. Und ja, es fällt mir schwer, nicht den Verlockungen der magischen Zahl 1000 zu erliegen. Im Geiste sehe ich Kreuzritterheere und Pilger an der Eiche vorbei ins Heilige Land ziehen.
Genug geträumt: Tatsächlich dürfte die St. Georgseiche ganze 350 Jahre alt sein. Woher man das weiß? Nun genau genommen weiß man es eben nicht. Niemand hat den Zeitpunkt der Pflanzung dokumentiert und die übliche Altersbestimmung durch Zählen der Jahresringe scheidet bei dieser Eiche natürlich genauso aus wie bei fast allen anderen wirklich alten Eichen oder Linden. Der Grund: Die Stämme sind hohl. So beständig Eichenholz auch sein mag: Nach spätesten 300 Jahren, oft schon viel früher, beginnen Mikroorganismen, Pilze und später auch Insekten, das harte Kernholz von innen her abzubauen. Für den Baum ist das nicht weiter schlimm. Seine lebenden Zellen befinden sich nur in der äußeren Holzschicht. Bäume können mit völlig ausgehöhlten Stämmen noch jahrhundertelang leben. Ja, nicht einmal die Standsicherheit muss gefährdet sein: Hohlzylinder sind nach dem Eulerschen Gesetz der Biegung massiven Zylindern sogar überlegen. Nur Jahresringe kann man bei den wahren Methusalems nicht mehr auszählen.
Also muss man ein wenig Detektiv spielen und kombinieren: Im Falle der Eiche von Marterberg sieht das so aus: 1990 hat der Baumforscher H. J. Fröhlich einen Stammumfang von 6,40 Meter gemessen. 2017 betrug der Umfang genau sieben Meter. Also 60 Zentimeter Zuwachs in 27 Jahren machen nach Adam Riese knapp über zwei Zentimeter pro Jahr oder eben sieben Meter in 350 Jahren.
Und was, wenn die Eiche früher viel schneller oder viel langsamer gewachsen ist? Ganz einfach, dann liegen wir mit unserer Rechnung voll daneben und werden nie erfahren, wie alt die St. Georgseiche wirklich ist. Aber ehrlich gesagt, halte ich das für recht unwahrscheinlich. Denn zwei Zentimeter jährlicher Zuwachs an Stammumfang ist für eine gesunde Eiche auf gutem Boden der zu erwartende normale Wert. Genau wie ihn Forstbotaniker bei vielen Vergleichsmessungen an vielen Stieleichen immer wieder festgestellt haben.
Von daher hat die St. Georgseiche sicher keine Kreuzritter gesehen und natürlich auch nicht den Heiligen Georg getroffen – der legendäre Drachentöter lebte schon vor rund 1700 Jahren und wahrscheinlich eher in der heutigen Türkei.
Aber die mächtige Eiche war schon da, als 1715 in Frankreich König Ludwig, 14. starb und war schon alt, als im Jahr 1809, nur einen Tagesmarsch entfernt, Napoleon die österreichische Armee bei Landshut vernichtend schlug. Und so werde ich doch ehrfürchtig, wenn ich mich beim Fotografieren unter der Eiche wie ein Zwerg fühle und mir vorstelle, dass sie in 200 oder 300 Jahren vielleicht noch immer ihre markanten Äste in den abendlichen Aprilhimmel reckt.
Artikel und Foto: Jürgen Schuller
Wenn Sie Jürgen Schullers Baumgeschichten aus der Oberpfalz lesen möchten, dann folgen Sie diesem Link: https://www.baumgeschichten.net/