Discos, Clubs und Bars, was wir heute unter „fuadgeh“ verstehen, entwickelte sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkriegs, traf sich die Jugend in Tanzcafés. Inspiriert von „neuen“ amerikanischen Musikgenres, wie Swing oder Rock n‘ Roll, suchten auch die Einwohner und Einwohnerinnen Deggendorfs nach Treffpunkten und da bot sich vor allem ein Café an:
Der Familie Wiedemann gehörte bereits seit 1861 das Haus in der Luitpoldstraße 5. Ursprünglich befand sich dort eine Lebzelterei, eine Lebkuchenbäckerei, in der die Familie, seit sie im Jahr 1899 eine Schankerlaubnis erworben hatte, auch ihren selbstgemachten Honigwein ausschenken durfte. Eine durch den Umbau 1935 entstandene Weinstube bot Platz für ein Klavier und eine Tanzfläche. Angelehnt an das Konzept der Wiener Liedercafés, steigerte sich der Bekanntheitsgrad schnell. Das änderte sich mit dem Zweiten Weltkrieg und der amerikanischen Besatzung; das einstige Tanzcafé musste nun als Kantine herhalten. Ende der 1940er Jahre machte die Kantine wieder Platz für ein Nachtlokal: „Tusculum“, eine neue Bar, eröffnete im Jahr 1949 und das war für Deggendorf etwas ganz Besonderes. Dort konnten Gäste Karten spielen, Wein trinken oder ganz spezielle Cocktails bestellen. Der Barkeeper Fritz Bäumler servierte der Kundschaft zum Beispiel ein exotisches Getränk mit dem Namen „Lufthansa-Cocktail“, der Fluggästen der Lufthansa serviert wurde. Obwohl der Name vielversprechend klingt, bestand der Cocktail nur aus Sekt und Orangen-Aprikosenlikör.
Exklusivität bestimmte auch die Atmosphäre der Bar und lockte Neugierige aus ganz Niederbayern an. Lange Öffnungszeiten, oft bis 3 Uhr nachts, belebten das Nachtleben in Deggendorf und bald war es der Familie Wiedemann möglich das Nachbarhaus zu erwerben, um ein neues Tanzcafé einzurichten. Das als modern geltende Café veranstaltete regelmäßig sogenannte „Tanztees“. Menschen aus Deggendorf und ganz Niederbayern trafen sich in schickem Kleid und Hemd und verbrachten ihre Nachmittage und Abende mit Live-Musik der eigenen Hauskapelle. Bis heute ist das Gästebuch erhalten, in dem sich internationale Spitzensportler, Musiker und Prominente, wie Rita Blumenberg, Max Greger und Franz Josef Strauß eingetragen haben. Das bunte Publikum und die Atmosphäre machten das Café zunächst sehr beliebt und über die Stadtgrenzen hinaus bekannt, doch neue kulturelle und musikalische Interessen der jüngeren Generation machten die Tanzcafés unattraktiv und führten zur Schließung, aber die Konditorei und das Café waren weiterhin geöffnet.
Unter dem Namen „Kaffeehaus Wiedemann“ ist das Lokal auch heute noch in der Deggendorfer Innenstadt zu finden. Nach weitreichenden Renovierungsarbeiten im Außen- und Innenbereich betreibt es seit 2021 die Familie Schwinghammer und verkauft dort süßes Gebäck und Pralinen aller Art. Trotz der grundlegenden Veränderungen bei der Inneneinrichtung und des Erscheinungsbilds hat das Café seinen Charme nicht verloren und die lange Geschichte des Cafés und die Bedeutung für die Region machten es zur Institution in Niederbayern, die von den neuen Besitzern fortgeführt wird.
Lena Bauer