Volksmusik gilt als Aushängeschild für regionale Identität. Sowohl die bayerischen Bezirke als auch zahlreiche Vereine schreiben sich die Pflege dieser Musik auf ihre Fahnen. Wie zeitgemäß ist das?

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte man Volksmusik als Forschungsgegenstand: Ab diesem Zeitpunkt wurden vermehrt Lieder und Musikstücke aufgezeichnet und veröffentlicht. Nach der Instrumentalisierung von Volksmusik im Dritten Reich erfuhr sie ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erneute Aufmerksamkeit durch die Bestellung haupt- und nebenamtlicher Volksmusikpfleger sowie durch große Bühnenveranstaltungen mit Vorzeigegruppen. Darüber hinaus erhöhte die Präsentation ausgewählter Volksmusik im Radioprogramm deren Wertschätzung enorm. Dabei wurden auch musikalische Neuschöpfungen und neue Ensemblebesetzungen wie die Stubenmusik oder der Dreigesang als traditionell präsentiert. Und was (vermeintlich) alt war, galt als „echt“, wertvoll und unveränderlich.

Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist ein Umdenken spürbar: Die Stärke der Volksmusik liegt in der Teilhabe und der Gemeinschaft. Einfache musikalische Strukturen ermöglichen vielen Menschen, Volkslieder zu erlernen, gemeinsam zu musizieren, beim Volkstanz zu partizipieren, aber auch musikalisch zu experimentieren. Die Tradition als Begründung für eine Fortführung der Volksmusikpflege reicht also nicht mehr aus. Unsere ethnisch durchmischte Gesellschaft, in der Teilhabe und Selbstverwirklichung eine zentrale Rolle spielen, hat andere Ansprüche.

Diesen wird das Profil gerecht, das sich die führenden Institutionen der Volksmusikpflege im Frühjahr 2019 beim Seminar für Volksmusikforschung und -pflege in Bayern gegeben haben: Es verbindet Volksmusikpflege ganz selbstverständlich mit Begriffen wie Dynamik, Offenheit, Integration oder Gegenwartsorientierung. Denn musikalische Überlieferung ist ein sich fortlaufend verändernder Prozess, der nicht an starren Formen festhält. Stilistische Neuerungen wie die Einbindung ungewöhnlicher Instrumente oder innovativer Rhythmik und Harmonik gehören ebenso dazu wie neue Veranstaltungsformate, z.B. das Volksmusikpicknick des Bezirks Niederbayern oder die Wohnzimmerkonzerte beim Volksmusikfest „drumherum“.

Eine integrative Volksmusikpflege, die alle Bevölkerungsgruppen einbindet, ist offen für die Musik eingewanderter Menschen und bietet generationenübergreifende Angebote für Jung und Alt. Die Gegenwartsorientierung der Volksmusikpflege zeigt sich wiederum in digitalen Angeboten zum Download von Musik und Noten oder im kritischen Umgang mit Liedtexten, die überholte gesellschaftliche Rollenbilder bedienen. Braucht unsere Gesellschaft etwa noch Lieder über saufende, raufende Männer und schimpfende Frauen? Wohl kaum, zeitgemäß ist es nicht. Volksmusikpflege wird heute daher als traditionsorientierte Musikpflege verstanden, nicht als statische Traditionspflege.

Nach verschiedenen Entwicklungsphasen sind Volksmusik und Volksmusikpflege durchaus in der Gegenwart angekommen. Diese „Volksmusikpflege 3.0“ schafft situative Erlebnisräume mit regionalen Bezügen und stiftet Identität. Jeder ist willkommen und kann sich einbringen. Damit entspricht sie den immateriellen Bedürfnissen einer postmodernen Gesellschaft, die eine prinzipielle Offenheit von Kunst und Kultur fordert.

VK
(Foto: Peter Litvai)