Landshut, Karfreitagabends im Jahr 1665. Eine Prozession zieht im Fackelschein durch die nächtliche Altstadt. Mehrere Dutzend in Kutten und mit Kapuzen verhüllte Personen peitschen sich mit Geißeln den Rücken, so dass das Blut nur so spritzt und ihre Haut in Fetzen herabhängt. Ganz Landshut, rund 7000 Personen, ist auf den Beinen. Viele Bürger ziehen bei der Prozession mit durch die morastigen und dreckigen Gassen der Stadt. Die anderen wiederum stehen als Zuschauer am Straßenrand und betrachten die Szenerie. Alljährlich spielte sich dieses Spektakel ab, bis es Ende des 18. Jahrhunderts schließlich verboten wurde.
In früheren Zeiten konnten religiöse Bräuche durchaus äußerst blutig und schaurig sein. Ein Beispiel hierfür ist die Landshuter Karfreitagsprozession, die während des 17. und 18. Jahrhunderts alljährlich stattfand. Sie ging gewöhnlich um 19:00 Uhr bei St. Jodok los und endete in der Pfarrkirche St. Martin. Veranstaltet wurde sie maßgeblich durch die Grab-Christi-Bruderschaft. Diese religiöse Vereinigung hatte besonders die Ausschmückung des Heiligen Grabes und die Gestaltung der Karwochenbräuche zur Aufgabe.
Den Geißlern, die sich zur Abbüßung ihrer Sünden selbst auspeitschen wollten, stellte die Bruderschaft Geißeln zur Verfügung. So erwarb sie im Jahr 1665 bei einem Gürtler 250, im Jahr 1666, 500 so genannte Sperlein. Diese waren kleine, aber äußerst spitze Metallteile, die dann in Seilstücken zu einer Geißel geflochten wurden. Damit konnte man schlimme Wunden reißen. Wie angesehen die Geißler bei der Bevölkerung waren, beweist, dass sie während der Prozession von den Töchtern des Bürgermeisters Glabsberger begleitet und umsorgt wurden. Diese reichten ihnen Zuckerkonfekt und Wein. Ersteres war mit Schmerzmitteln, d.h. wahrscheinlich mit Opium, durchsetzt. Im Anschluss an die Prozession wartete dann schon der Bader mit Salben im beheizten Badhaus, um sich der Wunden der Geißler anzunehmen.
Weitaus schmerzfreier war die Tätigkeit der zweiten Büßergruppe, die der Kreuzzieher. Mehrere Dutzend Büßer zogen schwere, mannshohe Holzkreuze mit sich wie einst Jesus Christus auf seinem Leidensweg nach Golgatha. Diese Kreuze wurden von der Grab-Christi-Bruderschaft angeschafft und den Büßern zur Verfügung gestellt. Im Jahr 1758 hatte die Bruderschaft zwei Bäume erworben, um daraus von Zimmerleuten Büßerkreuze herstellen zu lassen.
Insgesamt muss die ganze Szenerie mit den Geißlern und Kreuzziehern sehr schaurig gewesen sein, wenn man bedenkt, dass die Prozession Abends in der Dämmerung und bei Fackelschein stattfand. Anno 1710 begleiteten 57 bestellte Pechpfannenträger und 24 Fackelträger den Umzug.
Finanziell sehr aufwendig wurde die Prozession dadurch, dass man an verschiedenen Stellen der Stadt Szenen der Passion nachspielen ließ und auch Plastiken mit Passionsdarstellungen auf Tragbahren mit sich führte. Da die Kostüme und Plastiken angefertigt bzw. angeschafft werden mussten, gingen Mitglieder der Grab-Christi-Bruderschaft in der Karwoche von Haus zu Haus, um mit der Sammelbüchse Spenden zu erbitten. Teilweise hatte man aber auch auf die Requisiten der berühmten Landshuter Fronleichnamsprozession zurückgegriffen. In den Bruderschaftsrechnungen finden sich immer wieder Hinweise auf Anschaffungen für die szenischen Darstellungen bei der Prozession. Anno 1671 kaufte man für zwei Teufelskostüme 8 Ellen Rupfen, ferner zwei neue Perücken und einen Bart sowie ein neues Gewand für den Christusdarsteller. Zuweilen unterstützten auch reiche Bürger die Prozessionen, indem sie Requisiten erwarben. Im Jahr 1738 kaufte so der Handelsmann Gebhart einen neuen Rock für den Jünger Johannes, ein kleines Röcklein samt Mantel für Christus sowie jüdische Hauben und eine päpstliche Krone.
Wo in der Stadt welche Szenen der Passion gespielt wurden, ist nur sehr schwierig zu rekonstruieren. Aus den Rechnungen wissen wir von der Aufführung einer Geißelungsszene. Es mussten nämlich oftmals neue Geißelungskleider für Christus gekauft werden, da die Alten verschlissen waren. Einen Höhepunkt bildete für die Zuschauer der Statthalter Pilatus mit seiner römischen Reiterei, die im orientalischen Stil gekleidet war. In Landshut stattete man die Reiter sehr prunkvoll aus. 1740 erwarb z.B. die Bruderschaft 17 Pariser Ranken aus Damast für diese Reiterei.
Auf einem Friedhof, vermutlich dem von St. Jodok, wurde die Ölbergszene, also die Verhaftung von Jesus durch die Wache des hohen Rates gespielt. Für die Ölbergdarstellung malte im Jahr 1769 der Künstler Ignaz Kaufmann eine Kulissenwand.
Ab dem Jahr 1734 hatte die Bürgerschaft die Prozession nicht mehr bei Nacht abgehalten, um Geld für Kerzen, Fackeln und Windlichter einzusparen. Trotz des hohen Aufwands versuchte die Stadtgemeinde alljährlich den Umzug in traditioneller Weise durchzuführen. Ausnahmen gab es in Notzeiten wie im Österreichischen Erbfolgekrieg zwischen 1742 und 1745. Damals wurden keine Prozessionen abgehalten.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam immer mehr Kritik an den Passionsspielen und den Karfreitagsprozessionen auf. Nicht nur die Aufklärer entwickelten sich zu vehementen Gegner dieser Bräuche, sondern vor allem der Klerus. Dieser kritisierte das zunehmende Verkommen der Spiele und Prozessionen zu einem „heiligen Fasching“, der nur noch der Volksbelustigung diente. Deswegen erließ am 31.03.1770 der bayerische Kurfürst ein landesweites Verbot von Passionsspielen. Er bestimmte, dass nur noch eine andächtige Prozession erlaubt sei, ohne Spiele und Darstellern in Gewändern. Ein Jahr später, 1771, fiel die Landshuter Prozession wegen einer großen Kältewelle und schlechtem Wetter ganz aus. 1772 verbot dann die Landshuter Rentamtsregierung das Mitgehen der Geißler. Sie bestimmte, Personen dürften sich zwar aus religiösen Gründen geißeln, aber nur daheim und nicht in der Öffentlichkeit. Am 14.03.1794 befahl wiederum die Rentamtsregierung Vorkehrungen zu treffen, damit niemand mehr mit Kutten bekleidet mitzieht. Schließlich verbot sie im Jahr 1796 die Teilnahme der Kreuzzieher. Daher vernichtete man die eingelagerten Kreuze. Ab diesem Zeitpunkt scheint die Landshuter Karfreitagsprozession in ihrer traditionellen Form ein Ende gefunden zu haben. Es wurde nur noch ein andächtiger Umgang ohne Schauspieler, Kostümierte und spektakuläre Szenen veranstaltet.
Mario Tamme